Incendies

Es gibt Filme, die sich anfühlen wie ein Schlag in die Magengrube. Denis Villeneuves „Incendies“ (deutscher Titel: „Die Frau, die singt”) gehört zu dieser Art Kino. Der Film, der im Oktober die Reihe „It Stains in the Family“ bei heimkino eröffnete, zeigt mit bedrückender Klarheit, wie unausgesprochene Geheimnisse, politische Konflikte und persönliche Traumata unweigerlich in den Familienkreis hineinwirken. Statt die Familie als Zufluchtsort zu erzählen, entlarvt Villeneuve sie als Knotenpunkt von weitergegebenem Schmerz – und stellt damit die unbequeme Frage, ob man jemals wirklich frei von der Vergangenheit seiner Eltern sein kann.

Nach dem Tod ihrer Mutter Nawal Marwan (Lubna Azabal) erhalten die Zwillinge Jeanne (Mélissa Désormeaux-Poulin) und Simon (Maxim Gaudette) ein ungewöhnliches Testament. Darin bittet ihre Mutter sie, zwei Briefe zu überbringen: einen an ihren unbekannten Vater, einen an den Bruder, von dessen Existenz sie nie etwas wussten. Die Reise der Zwillinge entfaltet sich in eine doppelte Spurensuche: Sie rekonstruieren das Leben ihrer Mutter, während sie gleichzeitig einschneidende Erkenntnisse über ihre eigenen Vergangenheiten gewinnen. In sorgfältig komponierten Rückblenden entspinnt sich eine Geschichte, die von tragischen Entscheidungen, unvorstellbarer Gewalt und einer unerschütterlichen Suche nach Gerechtigkeit geprägt ist.

Mélissa Désormeaux-Poulin und Maxim Gaudette als Jeanne und Simon in Denis Villeneuves Incendies

© Arsenal

Denis Villeneuves Verfilmung von Wajdi Mouawads Theaterstück entfaltet sich wie ein Puzzlespiel: Mit jeder Erinnerung, jedem Detail setzt sich das Bild einer Frau zusammen, die nicht nur Mutter, sondern zugleich Kämpferin, Geliebte, Gefangene und Überlebende war. Der Film bleibt dabei immer nah an den Zwillingen, deren Ungläubigkeit und Widerstand sich eindrucksvoll auf das Publikum übertragen. Besonders Simon, der zunächst jede Reise verweigert, verkörpert die Wut und das Unverständnis gegenüber einer Mutter, die ihr Leben in Geheimnisse gehüllt hat. Erst Schritt für Schritt begreifen die beiden, dass diese Geheimnisse keine Flucht vor Verantwortung waren, sondern der Versuch, ihnen ein freieres Leben zu ermöglichen.

Diese Erkenntnis macht den Film so schmerzhaft wie tröstlich zugleich: Schmerzhaft, weil er zeigt, wie sehr Eltern ihre Kinder durch ihr eigenes Schicksal belasten können, tröstlich, weil darin auch ein Akt der Liebe sichtbar wird – der Versuch, trotz allem auch Hoffnung zu vererben.

„Incendies“ ist ein Film über die Last des Erbes – und darüber, dass die Vergangenheit niemals stumm bleibt. Traumata, politische Konflikte und familiäre Verstrickungen hinterlassen Spuren, die auch dann weiterwirken, wenn eine Generation glaubt, sie hinter sich gelassen zu haben. Villeneuve inszeniert diess mit einer ruhigen und wahnsinnig präzisen Bildsprache, die die Brutalität der Geschehnisse umso unerträglicher macht. Die Wucht entsteht dabei aus der Unausweichlichkeit, mit der die Vergangenheit die Gegenwart der Figuren durchdringt.

In der großen Dunkelheit des Kinosaals im Cinenova entfaltete „Incendies“ eine besondere Intensität. Man spürte, wie das Publikum den Atem anhielt, wenn sich die Puzzleteile der Geschichte zu einem erschütternden Ganzen fügen. Und genau das ist es, was diesen Film so unvergesslich macht: Er zwingt uns, hinzusehen. Uns selbst mit Dingen zu konfrontieren, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden.

Lubna Azabal als Nawal Marwan in Denis Villeneuves Incendies

© Arsenal

In einem größeren Zusammenhang betrachtet, ist „Incendies“ nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch ein Kommentar über kollektives Gedächtnis und Vergessen. Villeneuve verschränkt das Private mit dem Politischen und zeigt, wie sich beides gegenseitig bedingt. Der Bürgerkrieg, der im Hintergrund wütet, ist mehr als Kulisse – er ist Sinnbild für die Gewalt, die in Familien wie in Gesellschaften weitervererbt wird, wenn niemand sie aufarbeitet.

Auch filmisch markiert dieses Werk einen Wendepunkt: Es ist der Film, mit dem Denis Villeneuve seinen Stil fand – diese Kombination aus formaler Strenge, emotionaler Wucht und moralischer Ambivalenz, die später Werke wie Prisoners oder Arrival prägen sollte. Hier zeigt sich seine Fähigkeit, das Unaussprechliche in präzise Bilder zu übersetzen: die Kamera bleibt distanziert, fast unbeteiligt, während die Geschichte emotional überkocht. Diese Spannung zwischen Kontrolle und Chaos, zwischen Klarheit und Schmerz, ist das, was Incendies so nachhaltig in Erinnerung brennen lässt.

Wenn es einen Film gibt, der das Monatsthema „It Stains in the Family“ perfekt verkörpert, dann ist das wohl „Incendies“. Er erinnert uns daran, dass das, was wir nicht wissen oder verdrängen, nicht verschwindet, sondern nur tiefer in uns eindringt. Und dass das Erzählen – so schmerzhaft es sein mag – vielleicht der einzige Weg ist, den Kreislauf zu durchbrechen denn Wunden kann man nicht heilen, indem man sie ignoriert. Im Oktober stehen noch vier weiter Filme zum Thema „It Stains in the Family“ an. Hier geht es zur Monatsübersicht.

Filmposter Incendies Denis Villeneuve
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„It Stains in the Family“ - Oktober 2025