Anemone
Mit „Anemone“ liefert Ronan Day-Lewis nicht nur sein Spielfilm-Debüt, sondern auch das große Comeback seines Vaters Daniel Day-Lewis. Die Zusammenarbeit der beiden weckt naturgemäß Interesse, nicht zuletzt weil sie unterschiedliche Generationen und künstlerische Zugänge vereint. Der Film ist ein melancholisches Familiendrama, das sich entfaltet wie ein Echo und mehr darüber erzählt, was unausgesprochen bleibt, als über das, was gesagt wird.
Ray Stoker (Daniel Day-Lewis), ein ehemaliger Soldat, hat sich nach seinen traumatischen Erlebnissen des Nordirlandkonflikts ins Exil zurückgezogen. Er lebt abgeschieden in einer Hütte tief im Wald, fernab der Gesellschaft. Sein Bruder Jem Stoker (Sean Bean) hat das Leben weitergeführt: Er kümmert sich um Rays Frau Nessa (Samantha Morton) und seinen Sohn Brian (Samuel Bottomley). Nach Jahren des Schweigens bricht Jem auf, um Ray zu konfrontieren.
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Ronan Day-Lewis, der seine Karriere als Künstler begann, bringt seine malerische Erfahrung klar ins Kino ein. Seine Bildkompositionen wirken wie lebendige Gemälde: dunkle Wälder, neblige Lichtungen, kriechende Schatten. Die Kamera verharrt oft ungewöhnlich lange in Totalen und lässt die Natur zur inneren Landschaft der Figuren werden. Der Wald wird zum psychologischen Raum – ein Ort, der Ray zugleich schützt und gefangen hält.
Thematisch kreist der Film um Trauma und Schuld, aber nicht im moralischen Sinn, sondern als schwere, ungreifbare Last, die sich über Jahre im Körper festgesetzt hat. „Anemone“ interessiert sich weniger für die Frage nach Vergebung als für die Unmöglichkeit, die Vergangenheit abzuschütteln, wenn sie sich in jede Faser des Seins gegraben hat. Ronan Day-Lewis erzählt von der Spirale aus Selbsthass, Scham und Loyalität, die Familien über Generationen hinweg prägt. Dabei verweigert der Film konsequent jede Form von Erlösung. Stattdessen zeigt er, wie Gewalt weiterwirkt, wenn der Krieg längst vorbei ist – als Echo, das in Körperhaltungen, Stimmen und Blicken weiterzittert.
Daniel Day-Lewis liefert eine erwartet intensive Darstellung: Rays Wut und Schmerz liegen direkt unter der Haut. Er explodiert fast nie, sondern trägt seine Qualen in langen Monologe aus, in Blicken und im bewussten Vermeiden jeglicher Lösung. Gerade diese Haltung macht seine Figur so zerbrechlich: Mit jedem kurzen Muskelzucken, jedem gepressten Atemzug zeigt Day-Lewis mehr als manche Schauspieler in ganzen Dialogsequenzen.
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Doch so atmosphärisch Ronan Day-Lewis’ Debütfilm auch ist: Der extrem verlangsamte Erzählrhythmus kann für viele Zuschauer zu fordernd sein. Lange Einstellungen, minutenlange Schweigepausen und nur spärliche dramaturgische Wendungen verleihen dem Film zwar eine meditative Intensität, führen aber auch dazu, dass Spannung sich nur selten wirklich entfaltet. Auch die Metaphern und Symbole der Erzählung sind teilweise überschwer. Einige künstlerische und surreal anmutende Sequenzen sind schwer zu entschlüsseln und lassen sich emotional nicht wirklich in die Handlung eingliedern.
„Anemone“ ist ein visuell überwältigendes und emotional forderndes Debüt, das sich Zeit nimmt, um in die Tiefen menschlicher Verletzungen vorzudringen. Es ist ein Film, der Geduld verlangt, aber reich belohnt – vor allem durch eine der nuanciertesten Performances, die Daniel Day-Lewis in seiner Karriere gezeigt hat. Wer ein klassisches Drama erwartet, könnte jedoch enttäuscht werden: „Anemone“ ist weniger Erzählung als Zustand, weniger Handlung als Stimmung, weniger Geschichte als seelische Landschaft.
Beim Tele-Stammtisch habe ich gemeinsam mit Stu noch ausführlicher über „Anemone“ gesprochen. Zum Podcast hier klicken.
„Anemone“ startet am 27. November 2025 in den deutschen Kinos.